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Neurodermitis neu verstehen

Vielleicht ist es hilfreich, wenn wir uns für einen Moment von der Vorstellung lösen, Neurodermitis sei einfach eine Hautkrankheit. Was wäre, wenn die Haut gar nicht das eigentliche Problem wäre, sondern ein Spiegel, ein sensibler, aufrichtiger Übersetzer dessen, was im Inneren des Kindes geschieht?

Wenn wir genauer hinsehen, erkennen wir: Neurodermitis ist kein Fehler der Haut, sondern Ausdruck einer Überforderung des gesamten Regulationssystems.

Sie zeigt uns, dass das Zusammenspiel zwischen Nervensystem, Immunsystem und Haut aus dem Gleichgewicht geraten ist.

Man könnte sagen:
Die Haut zeigt, was das Nervensystem fühlt.
Und das Nervensystem fühlt, was im emotionalen Raum der Familie geschieht.

Die Sprache der Haut

Die Haut ist ein Wunderorgan. Sie grenzt ab und verbindet zugleich. Sie spürt, schützt, atmet, reagiert. Entwicklungsgeschichtlich stammt sie aus demselben Gewebe wie das Nervensystem, dem Ektoderm. Deshalb kommunizieren beide ständig miteinander.

Wenn das Gehirn eine Bedrohung wahrnimmt, sei sie real oder innerlich erlebt, sendet es Signale über das vegetative Nervensystem an die Haut. Hormone, Neurotransmitter und Immunzellen treten in Aktion. Der Körper tut, was er gelernt hat: Er schützt.

Doch wenn dieser Alarmzustand zu lange anhält, verliert die Haut ihre Balance. Sie reagiert überempfindlich, entzündet sich, juckt, wird wund.
Nicht, weil sie krank ist, sondern weil sie überlastet ist.

Die Forschung beschreibt diesen Prozess inzwischen sehr genau:

„Neuronale Veränderungen lösen den Juckreiz aus und führen zu einem sich selbst verstärkenden Kreislauf. Die wiederholte Reizung durch Kratzen bewirkt eine Überempfindlichkeit und eine Überversorgung der Haut mit Nervenfasern.“
Journal of Integrative Dermatology (2023)

Das bedeutet: Die Haut wird buchstäblich dichter innerviert, empfindsamer. Der Körper merkt sich den Alarm.

Das Nervensystem, die eigentliche Schaltzentrale

Kinder mit Neurodermitis haben häufig ein besonders empfindsames Nervensystem.
Man könnte sagen: Ihre Wahrnehmung ist wie ein Mikrofon, das lauter eingestellt ist als bei anderen. Geräusche, Licht, Stimmungen, alles dringt stärker ein.

Wenn zu viele Reize gleichzeitig ankommen, gerät das System in Alarm.
Das Gehirn aktiviert Stresshormone, das Immunsystem reagiert und die Haut antwortet mit Entzündung.

Diese Verbindung ist keine Metapher, sie ist messbar.

„Ein bestimmtes Peptid, BNP, wird in sensorischen Nervenzellen gebildet. Es hilft dabei, das Gefühl des Juckreizes von der Haut ins Gehirn zu übertragen.“
Santosh Mishra, North Carolina State University, 2023

So schließt sich der Kreis: Das Gehirn sendet Signale an die Haut, die Haut sendet sie zurück, und das System bleibt im Kreislauf der Reizung gefangen.

Die Rolle von Beziehung und innerer Sicherheit

Ein Kind steht mit seinem Nervensystem nie allein da. Es ist ständig in Resonanz mit dem Nervensystem seiner Eltern. Wenn Sie ruhig sind, spürt Ihr Kind diese Ruhe. Wenn Sie in Sorge oder Anspannung sind, spürt es auch das. Diese wechselseitige Abstimmung ist keine psychologische Theorie, sondern neurobiologische Tatsache.

Bessel van der Kolk, einer der bedeutendsten Forscher auf diesem Gebiet, beschreibt es so:

„Neurowissenschaftliche Forschung zeigt, dass wir unsere inneren Zustände nur verändern können, wenn wir lernen, sie wahrzunehmen und uns ihnen freundlich zuzuwenden.“
Bessel A. van der Kolk, The Body Keeps the Score

Wenn Sie also beginnen, Ihre eigene innere Spannung zu bemerken und bewusst zu regulieren, verändert sich etwas Grundlegendes. Ihr Kind spürt das. Es orientiert sich an Ihrem Rhythmus.
Ihr Nervensystem wird zu einem sicheren Hafen.

Das Immunsystem als Übersetzer innerer Zustände

Das Immunsystem ist ein empfindsamer Übersetzer. Es reagiert nicht nur auf Viren und Bakterien, sondern auch auf die innere Befindlichkeit.
Chronischer Stress verändert die Immunantwort, sie wird überaktiv, verteidigt, wo keine Gefahr ist.

Das nennen wir Fehlregulation, doch eigentlich ist es ein Versuch des Körpers, Sicherheit herzustellen.
Neurodermitis ist in diesem Sinn kein Angriff, sondern ein Hilferuf des Systems:
„Etwas ist zu viel.“

Das Gehirn bleibt formbar

Hier liegt die große Hoffnung.
Das Nervensystem ist lernfähig, ein Leben lang.

„Unser Gehirn ist plastisch. Wir können es ein Leben lang verändern und formen.“
Andrew Huberman, Stanford University

Das bedeutet: Auch ein überempfindliches Nervensystem kann neue Bahnen bilden.
Wenn Eltern beginnen, ihre eigene Regulation zu pflegen, durch Achtsamkeit, Atem, Ruhe, Präsenz, dann weitet sich der innere Spielraum, das Window of Tolerance.

Innerhalb dieses Fensters können wir wahrnehmen, denken und reagieren, ohne überwältigt zu werden.
Kinder mit hoher Sensibilität haben oft ein enges Fenster. Schon kleine Reize bringen sie in Übererregung oder Rückzug. Aber jedes Mal, wenn Sie als Eltern ruhig bleiben, wenn Sie präsent bleiben, auch wenn es juckt oder weint, dehnt sich dieses Fenster. Man kann es sich vorstellen wie einen inneren Raum, der mit jeder Erfahrung von Sicherheit ein Stück größer wird.

Ein neues Verständnis

Wenn wir Neurodermitis auf diese Weise betrachten, verändert sich alles.
Wir hören auf, nur die Haut zu behandeln, und beginnen, das gesamte System zu verstehen.
Wir sehen, dass die Haut kein Feind ist, sondern ein kluger Übersetzer der inneren Welt.

Der Weg zurück zur Balance beginnt also nicht mit einer Creme, sondern mit Bewusstheit.
Mit der Fähigkeit, zu spüren, zu atmen, zu halten, sich selbst und das Kind.

In einem Satz zusammengefasst

Neurodermitis ist die Sprache eines Nervensystems, das zu viel fühlt, zu schnell reagiert und zu wenig Ruhe findet.
Wenn das System wieder lernt, sich zu regulieren, über Körper, Beziehung und Bewusstheit, kann die Haut aufatmen.