Etwa fünfzehn bis zwanzig Prozent aller Menschen sind hochsensibel. Hochsensible Kinder besitzen eine angeborene Neigung, ihre Umgebung deutlicher wahrzunehmen und gründlicher zu verarbeiten, bevor sie handeln. Sie nehmen Reize, Stimmungen und Atmosphären intensiver wahr als andere. Schon kleine Veränderungen in der Umgebung, in der Stimme eines Menschen oder in der Stimmung eines Raumes können sie berühren und beeinflussen.
Diese Kinder sind häufig mitfühlend, klug, intuitiv, kreativ, umsichtig und gewissenhaft. Sie spüren, was andere fühlen, noch bevor diese es selbst bemerken. Sie denken über das Erlebte länger nach, wägen ab, beobachten. Ihre Wahrnehmung ist tiefer, ihre Reaktion differenzierter. Doch gerade diese Fähigkeit, die Welt so fein wahrzunehmen, kann sie auch leicht überfordern.
Ein starker Geräuschpegel, grelles Licht, viele Menschen oder ein Übermaß an äußeren Reizen führen bei ihnen schnell zu innerer Unruhe. Sie nehmen nicht nur den äußeren Reiz wahr, sondern auch die emotionale Schwingung, die damit verbunden ist. Wenn sie diese Reizüberflutung nicht ausgleichen können, reagieren sie empfindlich, ziehen sich zurück oder wirken reizbar. Für Außenstehende erscheint das manchmal übertrieben, doch in Wahrheit ist es Ausdruck einer Überforderung des Nervensystems, das zu viele Eindrücke gleichzeitig verarbeiten muss.
In erster Linie verarbeitet das Gehirn hochsensibler Kinder Informationen gründlicher. Es sortiert weniger aus, registriert mehr Details und verknüpft Erfahrungen intensiver miteinander. Diese vertiefte Verarbeitung erklärt, warum sie oft länger brauchen, um Entscheidungen zu treffen, und warum sie viele Dinge in sich bewegen, bevor sie sie äußern.
Doch die Sensibilität betrifft nicht nur das Denken. Auch der Körper reagiert empfindlicher. Hochsensible Kinder besitzen häufig schnellere Reflexe, eine erhöhte Schmerzempfindlichkeit und reagieren stärker auf Medikamente, Nahrungsmittel oder Genussmittel. Ihr Immunsystem ist wachsamer, sensibler und manchmal überaktiv. Allergien treten bei ihnen häufiger auf.
Ihr gesamter Organismus scheint darauf eingestellt zu sein, mehr wahrzunehmen, mehr zu verstehen und feiner zu reagieren. In gewisser Weise ist ihr Körper ein Resonanzinstrument – er registriert, was im Inneren und im Äußeren geschieht.
Das hochsensible Kind denkt intensiver über seine Umwelt nach. Vieles, was es erlebt, wird unbewusst verarbeitet. Es ahnt intuitiv, was in anderen Menschen vorgeht. Manchmal spürt es Spannungen, ohne die Worte dafür zu haben. Intuition ist ein Wissen, dessen Ursprung man nicht kennt – und hochsensible Kinder verfügen in besonderem Maß über diese Fähigkeit.
Sie spüren Disharmonie, bevor sie ausgesprochen ist, und erkennen Zusammenhänge, die anderen entgehen. Diese intuitive Wahrnehmung ist keine esoterische Eigenschaft, sondern eine natürliche Form tiefer Aufmerksamkeit. Durch diese erhöhte Wachheit und die tiefere Verarbeitung reagieren sie emotional und körperlich intensiver als andere.
Diese innere Feinabstimmung zeigt sich auch im Körper. Besonders sichtbar wird sie in der Haut.
Die Haut ist das Organ der Grenze – sie trennt und verbindet zugleich. Sie spiegelt, wie sehr ein Mensch in Kontakt mit seiner Umgebung steht.
Die empfindsame Reaktion der Haut, wie bei Neurodermitis, kann als Ausdruck dieser Sensibilität verstanden werden. Das alte Sprichwort „Die Haut ist der Spiegel der Seele“ beschreibt das treffend.
Hochsensible Kinder erleben ihre Gefühle in einer besonderen Tiefe. Angst, Freude, Wut oder Trauer werden intensiver empfunden. Sie reagieren nicht nur auf Ereignisse, sondern auf die Bedeutung, die diese für sie haben. Eine kleine Kränkung kann großen Schmerz auslösen, eine Geste der Zuwendung tiefe Freude. Diese Kinder leben mit einem intensiven Gefühlsleben, das oft kaum in Worte zu fassen ist.
Sie sind ungewöhnlich empathisch. Sie nehmen das Leid anderer wahr und versuchen instinktiv zu helfen. Ihre Empfindsamkeit ist dabei keine Schwäche, sondern Ausdruck eines Nervensystems, das fein abgestimmt und stark vernetzt ist.
Manchmal erscheint es, als ob sie die Welt ohne Filter erleben – in direkter, unvermittelter Form. Das kann wunderschön und gleichzeitig anstrengend sein.
Natürlich gibt es individuelle Unterschiede. Kein Kind ist wie das andere. Hochsensibilität ist kein einheitliches Muster, sondern eine Tendenz, die sich je nach Persönlichkeit und Umwelt unterschiedlich zeigt. Die Art, wie ein Kind mit seiner Sensibilität umgeht, hängt stark von seinem Umfeld ab – von den Menschen, die es begleiten, und der Sicherheit, die es erfährt.
In einer Umgebung, die Verständnis und Ruhe vermittelt, kann das hochsensible Kind seine Wahrnehmung als Stärke erleben. Es kann lernen, mit seiner Feinfühligkeit umzugehen und sie als Gabe zu nutzen. In einer Umgebung, die überfordert, laut oder unberechenbar ist, erlebt es dieselbe Eigenschaft als Last. Es zieht sich zurück, reagiert gereizt oder entwickelt körperliche Symptome, weil das Nervensystem überfordert ist.
Gerade deshalb ist das Verständnis dieser Kinder so bedeutsam. Wenn ihre Sensibilität gesehen, akzeptiert und respektiert wird, entsteht Vertrauen. Dieses Vertrauen beruhigt das Nervensystem und stärkt die Fähigkeit, mit Reizen umzugehen.
Hochsensible Kinder brauchen Menschen, die ihr Erleben ernst nehmen, ohne es zu dramatisieren. Sie brauchen Eltern, die ihre Empfindsamkeit nicht verändern, sondern verstehen wollen. Ein Satz wie: „Ich sehe, dass es dir zu viel ist, komm, wir machen eine Pause“, wirkt regulierend. Er signalisiert dem Kind: Du bist in Ordnung, so wie du bist.
Die Verbindung zwischen Hochsensibilität und körperlichen Reaktionen wie Neurodermitis zeigt, dass die Grenzen zwischen Psyche und Körper fließend sind. Der Körper spricht die Sprache der Seele. Wenn Gefühle zu intensiv werden, um sie zu verarbeiten, reagiert der Körper. Das ist kein Zeichen von Schwäche, sondern Ausdruck einer tiefen Einheit von Geist und Körper.
Hochsensible Kinder sind häufig sehr intuitiv. Sie verstehen, was in anderen Menschen vorgeht, ohne es erklären zu können. Diese Fähigkeit ist wertvoll, kann aber überfordern, wenn sie zu früh oder zu stark in Anspruch genommen wird. Sie spüren unausgesprochene Spannungen, Stimmungen oder Sorgen der Eltern. Deshalb ist es für sie besonders wichtig, dass ihre Umgebung emotional klar und ruhig bleibt.
Wenn Eltern lernen, ihre eigene Ruhe zu finden, hilft das dem Kind, sich zu regulieren. Kinder orientieren sich unbewusst am emotionalen Zustand ihrer Bezugspersonen. Ein gelassener, zentrierter Erwachsener schafft Sicherheit. Ein gereizter oder überforderter Erwachsener verunsichert. Hochsensible Kinder nehmen diese Unterschiede sehr deutlich wahr.
Diese Kinder brauchen Pausen, Rückzugsmöglichkeiten, Rituale und Zeit für sich. Sie brauchen Räume ohne Lärm, grelles Licht oder dauernde Aktivität. Sie brauchen Eltern, die ihre Grenzen achten, ohne sie einzuengen.
Natürlich gilt auch hier: Es gibt keine perfekte Umgebung. Es geht nicht darum, alles Belastende fernzuhalten, sondern darum, Balance zu schaffen. Wenn das Kind weiß, dass es verstanden wird, kann es auch Belastung besser verarbeiten.
Jedes Kind bringt seine eigene Art zu empfinden mit. Hochsensible Kinder sind keine Ausnahme, sondern eine Variation menschlicher Wahrnehmung. Ihre Stärke liegt darin, tiefer zu spüren, intensiver zu denken und stärker zu reagieren.
Diese Beschreibung ist eine Zusammenfassung, die helfen soll, das Wesen hochsensibler Kinder zu verstehen. Für eine vertiefte Auseinandersetzung und wissenschaftliche Grundlage empfehle ich das Buch Das hochsensible Kind von Dr. Elaine N. Aron, in dem dieses Thema umfassend beschrieben wird.
Im Folgenden findest du den Test zur Hochsensibilität, den du für dein Kind anwenden kannst.
Ist mein Kind hochsensibel? Ein Fragebogen für Eltern
- Mit Ja bitte alle Aussagen ankreuzen, die genau oder auch mit Einschränkungen jetzt oder in der Vergangenheit zugetroffen haben.
- Mit Nein bitte alle Aussagen ankreuzen, die weniger oder garnicht zutreffen oder zugetroffen haben.
| Mein Kind…… | Ja | Nein |
| erschrickt leicht | ||
| hat eine empfindliche Haut, verträgt keine kratzenden Stoffe, keine Nähte oder Etiketten in T-Shirts | ||
| mag keine großen Überraschungen | ||
| profitiert beim Lernen eher durch sanfte Belehrung als durch harte Bestrafung | ||
| scheint meine Gedanken lesen zu können | ||
| hat einen für sein Alter gehobenen Wortschatz | ||
| ist geruchsempfindlich, sogar bei sehr schwachen Gerüchen | ||
| hat einen klugen Sinn für Humor | ||
| scheint sehr einfühlsam zu sein | ||
| kann nach einem aufregenden Tag kaum schlafen | ||
| kommt schlecht mit Veränderungen klar | ||
| findet nasse und schmutzige Kleidung unangenehm | ||
| stellt viele Fragen | ||
| ist ein Perfektionist | ||
| bemerkt wenn andere unglücklich sind | ||
| bevorzugt leise Spiele | ||
| stellt tiefgründige Fragen, die nachdenklich stimmen | ||
| ist sehr schmerzempfindlich | ||
| ist lärmempfindlich | ||
| registriert Details (Veränderungen in der Einrichtung oder im Erscheinungsbild von Menschen) | ||
| denkt über mögliche Gefahren nach, bevor es ein Risiko eingeht | ||
| erzielt die besten Leistungen, wenn keine Fremden dabei sind | ||
| hat ein intensives Gefühlsleben |
Auswertung:
Wenn 13 oder mehr der Aussagen mit „Ja“ beantwortet sind, ist ihr Kind wahrscheinlich hochsensibel. Kein psychologischer Test jedoch so genau, dass man sich nur darauf ausrichten sollte. Es ist nur ein kleiner Schritt zu etwas mehr Orientierung und der Versuch dies alles etwas zu erklären.
Quelle: Aron E., Das Hochsensible Kind, München 2021

